wewrite #7 – German version

Am Übergang
Ein persönliches Kaleidoskop politischer Kunst

André Leipold
09-02-2017

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Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.
– Hegel, „Phänomenologie des Geistes“
Bis vor kurzem verspürte ich stets ein Widerstreben bei der Beantwortung von Fragen, deren Sinn ich nur in der kurzfristigen Befriedigung öffentlicher Bedürfnisse zu erkennen glaubte; wie etwa die Benennung einer neuen Kunst-Kategorie (siehe Artivism) zur „besseren Einordnung“ dessen, was unter anderem durch den Begriff des Theaters schon längst abgedeckt war. So schien mir bisher auch die Frage, ob ich ein „politischer Künstler“ sei, aus demselben Holz geschnitzt. Ich konnte mich doch nicht einerseits im Zentrum für Politische Schönheit an der Überwindung metaphysischer wie physischer Grenzen abarbeiten und andererseits bei der Errichtung neuer Wahrnehmungsschranken helfen! Außerdem wollte ich nicht einzig und allein mit Aktionskunst assoziiert, auch den anderen Metiers gerecht werden, in denen ich künstlerisch und sonst wie unterwegs bin. Dass ich hierbei ebenfalls einer gewissen Kleinkariertheit zum Opfer fiel, wurde mir erst später bewusst. Die „richtige“ Suche nach Allgemeingültigkeit muss nicht unbedingt zu Allgemeinplätzen führen, sie kann auch – abhängig von den jeweils Beteiligten – tiefer schürfen und die Wurzeln von Begriffen oder Schlagworten wieder zur Betrachtung offenlegen.
Nach Durchleben des höchst erstaunlichen Jahres 2016 hat sich meine Perspektive jedenfalls geändert. Vorahnungen wurden bestätigt oder abgeräumt, schlummernde Erkenntnisse erweckt oder wieder eingeschläfert. Mein Standort ist nun gefühlt höher und überschauender.

Im Angesicht des dieser Tage wieder mal so oft heraufbeschworenen Verfalls früherer Gewissheiten und Normen wird mein Kopf paradoxerweise klarer – denn mit Brexit, Trump und den anderen Menetekeln verfielen nicht die Säulen der Wahrheit sondern nur die Kulissen verschiedener politisch-medialer „Theaterbetriebe“. Mit dem Wegfall von Wirklichkeitssimulationen werden nun die Blicke frei auf die Innenwände der berüchtigten Echokammern – sie umschließen die alternativen Realitäten ringsum, die Eingänge und Ausgänge bleiben verschlossen. Das gab es schon früher, nur fehlen mittlerweile die sogenannten Gatekeeper, jene in der Öffentlichkeit als Vermittler und Übersetzer ihrer jeweiligen Blasen angesehenen Repräsentanten. Dafür kann man jetzt aber besser von außen hineingucken. Vor allem nach der letzten US-Präsidentschaftswahl stellte sich für interessierte Beobachter das Feld der politischen Kommunikation als zwar verrätselte aber einflussreiche Sphäre dar, deren Stellung innerhalb der Meinungsbildung viel höher zu sein scheint, als vormals angenommen.
Doch wohin sollen diese Ausführungen nun führen? Zur zeitgemäßen Bestimmung eines künstlerischen Standortes für mich und andere vielleicht? Ich hoffe es. Als Künstler, der sich ob seiner Interdisziplinarität oftmals in verschiedene Einzelteile zerlegt fühlte, beruhigt mich, dass sich meine Tätigkeiten – Dramaturgie und Dramatik hier, Poesie und Musik da sowie praktische, forschende und schreibende Auseinandersetzung mit Kommunikation dort – immer konzentrierter entlang bestimmter Leitmotive bewegen und sich diese im Laufe der Zeit mehr und mehr aus dem Bereich fiktionaler Konstruktionen lösten. Das ursprüngliche Verständnis von Kunst als individuell entwickelte Fähigkeiten und Kenntnisse, die noch keiner bestimmten Funktion unterliegen, vervollständigt sich für mich durch die Erfahrung, dass eben jene Eigenkreationen einen realen Einsatzort erhalten. Das Kreieren, Ausgestalten und Ergründen eines angenommenen kollektiven Unterbewusstseins wich der Vorahnung, dass es sich hierbei um eine tatsächlich existierende Sphäre handeln könnte. Und die Vorahnung wich zuletzt dem Erkennen dieser, meiner Wahrheit. Fortan geht es für mich nicht mehr vorrangig darum, Fiktionen in Realitäten umzuwandeln sondern meine Energie vor allem darauf zu richten, von verschiedenen Seiten aus Zugänge zu jenem kollektiven Unterbewusstsein zu schaffen, – um so meinerseits zu einem Gatekeeper zu werden. Hier, in diesem Korridor zwischen Realität und Fiktion liegt für mich das Potential einer um Wissen, Spiritualität und Urvertrauen bereicherten Gemeinschaft. Hier liegt das Potential zivilisatorischen Fortschritts hin zu einer planetaren Gesellschaft. Hier liegen die Wurzeln meiner utopischsten Träume. Noch ist diese Wahrnehmungsebene ebenfalls eine Art transzendentale Echokammer. Mit den Mitteln der Kunst im erwähnten Sinne kann sie jedoch geöffnet werden und den zeitgenössischen Kommunikationsdschungel aus Fake-News, Postfakten und Anti-Aufklärung zumindest relativieren, im besten Falle verunmöglichen. An diesem Übergang fühle ich mich jedenfalls richtig platziert. Hier bin ich Mensch, hier bin ich Übergang. Und von hier aus erkenne ich mein persönliches Kaleidoskop politischer Kunst. Auch, wenn ich schon seit Jahren in der politischen Aktionskunst zu Hause war, kann ich mich erst aus der neuerlichen Sichtweise heraus mit einem runden Gefühl als politischer Künstler beschreiben – als jemand, der einem Kollektiv Vorstellungen und Emotionen zur Verfügung stellt; nicht, um zu manipulieren sondern um die Wahrnehmung für Datenströme zu sensibilisieren, die im alltäglichen, zunehmend desorientierenden und im schlechtesten Sinne zerstreuenden, medialen Grundrauschen untergehen. Meine sich in der Entwicklung befindenden Projekte für die nächsten ein, zwei Jahre bewegen sich allesamt an diesem Übergang – die rein fiktionalen (ein Science-Fiction-Theaterstück und ein neues Musikprojekt namens „Die Vorahnung“) wie die eher im Diesseits situierten (die nächste ZPS-Aktion und ein Radiofeature).

Im weiteren Verlauf möchte ich nun dazu einladen, mit mir zu mäandern, einige konkrete Inspirationsquellen und Ansatzpunkte zu besuchen. In diesem Fall will ich mich vor allem auf den Bereich der Massenkommunikation konzentrieren, der ja schon an sich ein weites Feld darstellt. Der Blick des Theatermachers ist ebenfalls nur einer von vielen möglichen Zugängen; der gebotenen Kürze wegen soll er hier jedoch exemplarisch beibehalten werden.

Theater als Kommunikationslabor

Ich bin überzeugt von den kaum ausgereizten, gesellschaftlichen Potentialen eines Theaters, das sowohl im uralten als auch postmodernen Verständnis als grenzüberschreitender Möglichkeitsraum interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Metiers und Wahrnehmungssphären wirken kann. Die Nutzung des Theaters als Kommunikations-Labor, in dem eine alternative Realitätskonstruktion entwickelt wird, impliziert, dass der Prozess des Erforschens zu einem Endprodukt, einem wie auch immer gearteten Output führt, der dadurch definiert ist, dass er im Anschluss den Weg in die reale Verwendung findet. Am Ende könnte und sollte in meinen Augen also ein geistiges Produkt stehen, das in der Welt abseits des Theaters, in der politischen Kommunikation, nutzbringend, d.h. bewusstseinserweiternd eingesetzt werden kann. An dieser Stelle übertritt der theatrale Prozess die Grenze zur Wirklichkeit, die im Theater geronnene Erkenntnis verändert die Realität – allerdings erst dann, wenn diese mit der kollektiven Wahrnehmung verdrängter Kommunikationsfelder einhergeht.

Das Jahr 2017 wird neben vielem unter dem Zeichen wichtiger Wahlen in Frankreich und Deutschland stehen. Die Wahlkämpfe werden wieder gigantische, mediale Bühnen entstehen lassen. Die Regisseure – also der Komplex aus Politik, Medien und Kommunikationsbranche – erweisen sich allerdings in vielerlei Hinsicht als dysfunktional und durch selbstauferlegte Determinanten blockiert.
So ist es kein neues, aber ein immer markanter werdendes Phänomen, dass die etablierte Welt der politischen Kommunikation trotz all ihrer über Jahrzehnte gewachsenen Expertisen an eine unsichtbare Mauer stößt. Sie vermag es nicht mehr (oder noch nicht), in die Sphäre kollektiver Erinnerung und gemeinsam geteilter Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume vorzustoßen – während es den offenbar vereinten rechtspopulistischen und autokratischen Kräften in Europa und darüber hinaus gelingt, wirkmächtig in ein kollektives Unterbewusstsein vorzustoßen, welches sie allerdings nicht so bezeichnen würden und nur sehr oberflächlich berühren. Jedenfalls ist es ihnen aus vielerlei Gründen einfacher möglich, die gegenwärtigen medialen Voraussetzungen für ihre Zwecke zu nutzen. Im Falle der FPÖ in Österreich war bei der letzten, nicht enden wollenden Bundespräsidentenwahl offenkundig, wie hemmungslos und willkürlich sich im Kramkasten manipulativer Werkzeuge zur massenpsychologischen Beeinflussung bedient wurde. Letztendlich scheiterte Norbert Hofer nicht an der Tatsache an sich, solche Mittel zu nutzen. Er scheiterte wohl eher an der zu offensichtlichen und undifferenzierten Herangehensweise. Dies sollte jedoch nicht über die Stärke hinwegtäuschen, die aus der Kombination von autokratischen Parteistrukturen (weniger Basisdemokratie = schnellere Abstimmung) und der Aktivierung kollektiver Erinnerungen, Ängste und Instinkte entstehen kann.

Die Kommunikation unterliegt seit einigen Jahren einem starken Wandel: Die Medienvielfalt steigt, Reichweiten sinken und die Interaktionen in sozialen Netzwerken gewinnen zunehmend an Bedeutung. Aus Medien (one to many) werden sozial-mediale Dialoge (many to many). Der Leser, Zuschauer oder Nutzer wird von einem Konsumenten zu einem Produzenten. Erfolgreiche politische Kommunikation bewegt sich an der Erkenntnis entlang, dass aufgrund dieser Situation ein „postfaktisches“ Medienzeitalter herangebrochen ist. Sender und Adressaten bilden über eigene Bezugs- und Zeichensysteme hinaus Realitäten (Echokammern, Blasen), die weniger auf abprüfbaren Fakten, auf Rationalität, als auf exklusiv geteilten Vorstellungen basieren.
Die Kommunikationsarbeit der progressiven Parteien, etwa in der deutschen Politiklandschaft, gründet jedoch seit langem auf der wiederholten, völligen Unterschätzung der Instinkte der Adressaten. Unter anderem deren Identifizierung einer Botschaft als Kommunikationsprodukt einer kleinen Gruppe, das instinktive Wissen darum, dass all diejenigen, die täglich in den verschiedenen Bereichen oder Abteilungen der zu bewerbenden Partei arbeiten, nicht in den Prozess der Vermittlung einbezogen sind, führt zu einer generellen Entfremdung.

Die Kommunikationsbranche

Im Kommunikationsdschungel aus profanen und schein-progressiven Botschaften, Worten, Richtungen und Widersprüchen der deutschen Politiklandschaft haben sich auch jene Akteure verloren, die sich einst zusammenfanden, um kollektiven Sehnsüchten und Hoffnungen auf eine „bessere Welt“ den Boden zu bereiten. Während das seelische Bedürfnis der Wählerschaft nach tiefer, wahrhaftiger und aufrichtiger Ansprache verkümmert, hält man sich mit unbedeutenden Grabenkämpfen und nichtigen Konflikten auf.
Diese Aushöhlung der ursprünglichen Berufung setzt sich auch in dem viel zu wenig als Akteur und Kreateur wahrgenommenen Feld der Kommunikationsagenturen und Berater fort – eine Branche, die sowohl in der wirtschaftlichen als auch in der politischen Öffentlichkeitsarbeit den Ton setzt und das Narrativ bestimmt. Häufig stellen die Agenturen in ihrer Außendarstellung extra heraus, wie sehr sie interdisziplinäres Um-die-Ecke-Denken schätzten. Nur leider sieht man oft das Wort vor lauter Worten nicht mehr. Zu gerne werfen die großen „Player“ bewährte, bestimmte Assoziationen auslösende Schlagworte in den Textmixer, wonach dann sinnbefreite Sätze entstehen, in denen von „kreativer Innovation, die alle verbindet“ die Rede ist, von der „Leidenschaft, faszinierende Marken aufzubauen und zu coachen“ oder in der politischen Kommunikation von einem „Wir“, das zähle, gesprochen wird.
Inflationär werden auch die Worte „Vision“ und/oder „Philosophie“ gebraucht – um das Fehlen ebendieser, vermeintlich zu komplexer, eigentlich unter solche Begrifflichkeiten fallender Inhalte zu kompensieren. Dies heißt nicht, dass die Verfasser fern von jeder Weisheit seien oder deren angehäuftes Fachwissen keinen Wert darstelle.
Es wirft nur eben ein Schlaglicht auf die offenbare Entfremdung einer Branche gegenüber ihren wichtigsten Arbeitsmitteln; in diesem Fall den Worten, deren viel gewichtigere, eigentliche Bedeutungs- und Gefühlsebenen abgeschnitten und von dünneren, formbareren Simulationen derselben abgelöst werden.

Mit ein wenig Abstand betrachtet – unter Zuhilfenahme „fachfremder“ Kompetenzen und Zugänge – lässt sich vorhersagen, dass dieses Unterfangen an natürliche Grenzen stoßen wird, nämlich die der alteingesessenen Wahrhaftigkeit, der Glaubwürdigkeit und der Aufrichtigkeit; Worte, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen aber höchstwahrscheinlich vor einem überwältigenden Comeback stehen. Das „Brachliegenlassen“ unerschöpflicher Ressourcen aus Philosophie oder Literatur ist vielleicht am besten über die Heranziehung eben jener Quellen zu erklären: Die Macht der Gewohnheit, das Gesetz der Trägheit: Diese Faktoren sind noch zu mächtig, um einen Umsturz der geistigen Standards innerhalb der Kommunikationsbranche zu erlauben. Noch herrscht das epische Missverständnis, die herangezogene Empirik zu Adressaten und Zielgruppen würde eine tiefere, metaphysische Verankerung der „Messages“ ausschließen. Hier hinkt man ganz eindeutig hinterher. Der Blick auf andere Gesellschaftsbereiche lehrt: Wenn professionelle Kommunikation tiefere Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen anklingen lässt und mit glaubhafter Wahrhaftigkeit kombiniert, trifft diese nicht nur auf Resonanz sondern auf echte Zuneigung.

Wenn nun in einer Botschaft die Ahnung von einer großen Gemeinschaft mitgeliefert wird, wenn sich hierüber Zugänge zu einem kollektiven, zeitlosen Unterbewusstsein eröffnen, das sich unter einer Schicht aus höchst vergänglichen Datenströmen verbirgt; wenn also Hersteller, Überbringer und Adressaten als großes Ganzes verinnerlicht werden, das mehr darstellt als die Summe seiner Teile, dann können Wechselwirkungen unerhörten Ausmaßes entstehen. Man würde nicht nur eine ganz und gar nicht konstruierte Sphäre anzapfen, sondern alle Beteiligten dieser umfangreichen, im schönsten Sinne „crossmedialen“ Korrespondenz wahrhaftig ernst nehmen. Es kämen noch weitere, sich selbst verstärkende Synergieeffekte zustande, die vormalige Phrasen in realitätsgetreue Beschreibungen der waltenden Prozesse verwandeln würden: Erst dann betriebe man „innovative Kommunikation“ und „Visionsmanagement.“
Eine tief verwurzelte, sehr deutsche Grundhaltung basiert auf der Annahme, die nötige Orientierung „in diesen unübersichtlichen Zeiten“ sei zu erreichen, indem für jedes Ding ein passendes Kästchen gefunden wird. In manchen Lebensbereichen muss dies auch nicht unbedingt falsch sein, jedoch: Einer jederzeit und allseits angestrebten, tieferreichenden Orientierung, nämlich der Erkenntnis darum, woraufhin mein Leben gerichtet sein soll, welche Spuren ich gerne hinterlassen möchte, werden oft unnötige und willkürliche Grenzen gesetzt. Gerade durch die Welt der professionellen Kommunikation sollte aber der Geist eines solchen, übergeordneten Unternehmertums viel häufiger wehen.
Hier wie auch woanders kann die Kunst-, bzw. die Theaterwelt eine alternative Kommunikationswelt entwickeln, vorführen und – in meiner interdisziplinären und synergiesuchenden Wunschwelt – durch die Hilfe bestimmter Gatekeeper in der Realität installieren.

Die erstarrten Progressiven

Auch Politik und Medien werden zu entscheidenden Teilen über Worte betrieben – ob gesprochen, beprochen oder festgeschrieben. Deshalb leuchtet es von „außen“ betrachtet durchaus ein, wenn vermeintlich fehlgeleitete Political Correctness meist von rechts als Hauptursache dafür angeführt wird, dass sich „die Menschen vom liberalen Establishment nicht mehr abgeholt fühlen“.
Ich erinnere mich an eine Kritik zu einem ideengeschichtlichen Manifest, in welcher sich der Verfasser darüber beschwert, das Wort „Abendland“ würde in dem Text nicht „in Abgrenzung zu Pegida reklamiert werden“. Meine erste Reaktion darauf war: Was soll denn jetzt noch alles in Abgrenzung zu Pegida reklamiert werden? Ich behalte mir jedenfalls pauschal vor, mein Gehirn in Abgrenzung zu Pegida zu reklamieren und nicht im vorauseilenden Diskurs-Gehorsam blindwütig Jahrhunderte alte Begriffe mit Warnzeichen zu bekleben – tragfähige Begriffe, die ja genau deshalb, weil sie schon mit so viel Bedeutung gefüllt sowie häufig be- und versetzt wurden, in unterschiedlichen Kontexten etwas anklingen lassen und mannigfaltige Vorstellungen auslösen können. Letztendlich würde diese Logik in eine verheerte Semantik münden, die sich jeglicher Exklusivität versperrt.
Wenn man sich die Wörter als alte Spukhäuser vorstellt, besorge ich einen Parapsychologen, der die bösen Geister austreibt und arrangiere mich mit den anderen. Der benannte Feuilletonist stellt sich wohl eher vor, die Häuser einfach gleich ganz abzureißen. Neulich hat übrigens ein Pegida-Redner das Wort Nächstenliebe benutzt. Was macht Gott jetzt?

Im Wording und Framing der Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit war es uns seit jeher wichtig, eine zeitlose Perspektive einzunehmen, in eine metaphysische Korrespondenz mit den Toten, den Lebenden und den Noch-Nicht-Geborenen einzutreten. Es ist somit immanenter Bestandteil unserer „Theaterarbeit“, Begriffe umzuwidmen, zu vereinnahmen oder neu zu beleben. Die Herstellung einer retrospektiven Sichtweise auf die Gegenwart eröffnet eine Art Niemandsland, so etwa zwischen den Bildern, die – nach jetzigem Stand – in einigen Jahrzehnten für das Europa unserer Zeit stehen werden und denen, die eine solche Rückschau präventiv verhindern sollen. An diesem Ort kann neu und anders gedacht und ein Wettstreit der Ideen und Bilder hergestellt werden, der aktuelle Kontexte für einen kurzen Moment verunmöglicht – aus freiem Willen und sich vermeintlicher naturwissenschaftlicher, soziologischer, politischer, kultureller oder ökonomischer Zwänge entledigend.

Theater kann in diesem Sinne – befreit von Sachzwängen – einen solchen Willen wieder herstellen und dazu Ideen und Vorstellungen liefern, die den gemeinsamen Nenner unserer, immer nach Terroranschlägen plötzlich entdeckten „Art zu leben“ um deutlich mehr erweitern können, als die ewiggleichen Solidaritätsgesten im Fußballstadion oder Freizeitbetätigungen als „Zeichen unserer Freiheit“. Es gilt etwa, den langfristig deutlich prägenderen Bildern toter Flüchtlinge am italienischen Strand etwas entgegenzusetzen, das der humanistischen Tradition Europas wenigstens annähernd gerecht wird und die Hoffnung darauf nährt, dass aus Utopien Fakten werden können. Hieran knüpft sich mein vitales, künstlerisches Interesse, Zugänge zu einem kollektiven Unterbewusstsein zu schaffen – zu einer Sphäre also, in der im Gegensatz zum Freud´schen Bewusstseinsbegriff den Mitmenschen und einer zeitlosen Gemeinschaft ebenso viel Bedeutung zukommt wie individuellen Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen.
Unter einem medialen Grundrauschen werden kollektive Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume aber vergraben. Ich will dagegen laut träumen! Die Voraussetzungen hierfür sind jedoch (noch) nur im bedingungsarmen Kunstraum gegeben. Das spirituell ausgetrocknete Antlitz unserer Gegenwart wieder mit Wundern zu füllen, kann eine sehr schöne Aufgabe des gegenwärtigen Theaters sein. Es kann und soll auch geistige Entwicklungshilfe für Politiker, Medienvertreter oder Kommunikationsberater bieten – mit dem großen Vorteil, dass dies ohne großen Gesichtsverlust angenommen werden kann, es ist ja nur Kultur!
Hierin kann auch ein ernstzunehmender Beitrag zur Bekämpfung der schleichenden, sogenannten Politikverdrossenheit gesehen werden, die generell schwindende Wahlbeteiligung ist ja vor allem ein Zeichen dafür, dass denjenigen, die weitreichende Entscheidungen zu treffen haben und auch die legitimierte Macht hierfür besitzen, genau dieses nicht mehr zugetraut wird. Dafür zu sorgen, dass es ihnen wieder zugetraut wird, ist ein sowohl tiefromantisches als auch dringend nötiges Unterfangen, um der „postmodernen Ununterscheidbarkeit“, etwa von Parteien, wieder Visionen und das „eigene Wollen“ von Entscheidungsträgern entgegenzusetzen – auf dass sie wieder inspirieren (und auch polarisieren) und die Wähler wieder die Möglichkeit erhalten, bzw. erkennen, beherzte Richtungsentscheidungen zu bekunden.

Ich sehe die Aufgabe meiner und der Arbeit anderer gerne darin, sich dort „hineinzuriskieren, wo die Wege nicht markiert sind, wo das Terrain unsicher geworden ist und wo das gleichmäßig ausgebreitete, allen wohlbekannte Licht nicht mehr so wie früher eindringt“, wie es der französische Philosoph François Jullien, zwischen fernöstlicher und europäischer Philosophie korrespondierend, in seinem Text “Vom Abstand zum Gemeinsamen“ ausdrückt. Eine andere Perspektive zu dem einzunehmen, „wohinein das Denken gebettet und daher nicht mehr denkend ist, von dem, was bereits so gut assimiliert, integriert und beglaubigt ist, dass es die dafür ausschlaggebenden Vorausentscheidungen und deren Parteilichkeit vergraben und vergessen hat […] und als evident durchgehen lässt.“
Hier, am Übergang zwischen Realität und Fiktion, zwischen Politik und Kunst, zwischen Handlung und Idee will ich bleiben. Hier kann Großes und Gutes entstehen. Hier können nutzlose und lähmende Grenzen der Wahrnehmung durchbrochen werden. Nur hier höre ich den ganzen Ton und sehe das ganze Bild – in uns allen.

André Leipold
Text #7 in “We Write, Right?” ein Projekt von gold extra